Bericht der Nordwestzeitung vom 9.10.2012 (Autor: Stephan Giesers)
Von Zeitzeugen für die Zukunft lernen
Wilhelmshaven „Das ist emotional sehr anstrengend für mich“, sagt der Franzose Raymond Gourlin und kämpft mit den Tränen. Der 87-Jährige will aber von seiner Vergangenheit erzählen: 1944 kam er als politischer Gefangener ins Außenlager des Konzentrationslagers Neuengamme am Alten Banter Weg in Wilhelmshaven.
Damals war Gourlin kaum älter als die Schüler der Integrierten Gesamtschule Wilhelmshaven, die ihn und drei weitere ehemalige Häftlinge interviewen sollen. Anlass ist ein einwöchiges Zeitzeugenprojekt. Neben Gourlin sind die Überlebenden Jean Mevel, Pascal Valliccioni und Marcel Bayod mit ihren Frauen nach Wilhelmshaven gekommen. Begleitet werden sie von der Präsidentin der Häftlingsvereinigung „Amicale Francaise de Neuengamme“.
Vormittags hatten die französischen Gäste und Projektbeteiligten die Gedenkstätte am Alten Banter Weg besucht. Die Jugendlichen pflanzten dort einen Rosenstrauch. Ab diesem Dienstag führen die 13 Schüler aus den Klassen 11 und 13 ihre Interviews und erarbeiten in Zusammenarbeit mit „Radio Jade“ Hörbeiträge, die später in die Dauerausstellungen des Küstenmuseums und Deutschen Marinemuseums integriert werden sollen.
„Viele Zeitzeugen gibt es nicht mehr“, sagte der Schüler Jonas Witte. Deshalb müsse man diese Chance wahrnehmen und die Aussagen an andere weitergeben.
Bürgermeister Fritz Langen begrüßte die Gäste und lobte das Projekt: „Das, was geschehen ist, enthält eine Botschaft für alle nachkommenden Generationen“, sagte er. Nur so könne man aus dem dunklen Kapitel deutscher Geschichte Lehren ziehen. Nicht zuletzt die Anschläge der rechtsextremen Zwickauer Terrorzelle hätten gezeigt, dass die menschenverachtende Ideologie des Faschismus nicht vollständig gebannt seien.
Die Idee geht auf die Küstenmuseums-Mitarbeiterin Merle Stolze zurück, die im vergangenen Jahr starb. Dass ihr Konzept nun umgesetzt werden kann, freut Tanja Kwiatkowski ganz besonders. „Die Schüler sollen Geschichten vor Ort erleben“, sagte die wissenschaftliche Leiterin des Küstenmuseums.
Der Wilhelmshavener Verein „Kulturgut“ hat das Projekt mitorganisiert. „Der Kontakt zu Zeitzeugen über ein solches Projekt ist einzigartig und müsste viel mehr jungen Menschen zuteil werden“, sagte Dr. Stephan Kolschen von der Gerd-Möller-Stiftung, die neben der Bürgerstiftung der Sparkasse und der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ (EVZ) das Projekt finanziell unterstützt.
Die Zeitzeugen nehmen wie selbstverständlich am Projekt teil. Seit vielen Jahren kommen sie nach Wilhelmshaven, um der Opfer des NS-Regimes zu gedenken. „Die heutige Generation, Kinder und Jugendliche, sind für die Gräueltaten der Nationalsozialisten nicht verantwortlich“, sagte Gourlin. Dass sich die Schüler in einem solchen Projekt engagieren, freut die Zeitzeugen.
„Die Schüler werden viel lernen und Geschichte tatkräftig begreifen“, ist IGS-Lehrerin Hildegard Bierbaum überzeugt. Ein Geschichtsbuch könnte das so nicht leisten.
Quelle: http://www.nwzonline.de/schule/von-zeitzeugen-fuer-die-zukunft-lernen_a_1,0,1378820899.html (Zugriff: 1.8.2013)
Link: Videoreportage des Friesischen Rundfunks