Artikel aus der Zeitschrift „Yacht“ – Ausgabe 5 – 2014 von HOLGER PETERSON
In Wilhelmshaven schicken MEHRERE SCHULEN ihre Schüler gemeinsam aufs Wasser. Sie sollen den Umgang mit Pinne und Schot üben. Und nebenbei manche Lektion für die spätere BERUFSKARRIERE mitnehmen.
Der eine ist Lehrer für Sport und Chemie, der andere unterrichtet Biologie und Geografie. Jürgen Maywald, 57, und Dieter Rothe, 60, gehören seit den siebziger Jahren dem Kollegium der Integrierten Gesamtschule, kurz IGS, in Wilhelmshaven an. Und beide sind Vollblutsegler. Dank ihnen haben Schüler ab der fünften Klasse die Chance, während ihrer Zeit bis zum Abschluss und bis weit ins Studium oder die Berufsausbildung hinein regelmäßig segeln zu gehen – ohne in einen Verein eintreten und ohne ein eigenes Boot besitzen zu müssen.
Seit zehn Jahren existiert das Segelprojekt. Während die Jüngsten den Umgang mit Pinne und Schot erst lernen müssen, büffeln die älteren Jahrgänge für Segelscheinprüfungen, engagieren sich als Co-Ausbilder, beteiligen sich an Regatten oder gehen eigenverantwortlich auf Törn. Für all das stehen unterschiedliche Boote zur Verfügung.
Was den Anstoß für das Projekt gab? Ganz einfach: „in Bayern lernt jeder Schüler Skifahren. An der niedersächsischen Küste hingegen endete für die meisten meiner Schüler der Horizont am Deich. Ich wollte, dass sie die Wunderwelt des Wattenmeers kennenlernen“, erklärt Maywald.
Das aber war allein nicht zu schaffen. Daher holten die IGS-Pauker weitere Partner ins Boot: zunächst die Cäcilienschule Wilhelmshaven, das ist ein staatlich anerkanntes freies Gymnasium, sowie die berufsbildenden Schulen der Stadt. Später kam dann die Fachhochschule dazu, deren Studenten inzwischen gar über einen eigenen Bootsfuhrpark verfügen.
Für den Durchbruch des Projekts indes war etwas anderes entscheidend. Maywald: „Im Kollegium hatten wir einen Ratsherrn. Der riet uns, ein Sponsorenkonzept zu erstellen. Das war der Schlüssel zur Finanzierung eigener Fahrtenboote.“
Denn die Idee kam an. Nicht nur bei den Schülern: Auch die ansässige Wirtschaft zog mit. Von der Gerd-Möller-Stiftung eines verstorbenen Wilhelmshavener Bauunternehmers kam das Geld für den Kauf einer ersten Jantar. Sie trägt seinen Namen und wird immer noch von den Schülern gesegelt. Die Firma Nordfrost spendierte maßgeblich das zweite baugleiche Boot, Schiffsname „Frosti“.
Und von der Friesenpresse, der Wilhelmshavener Sparkasse sowie weiteren Sponsoren erhielt man die Mittel, um vor zwei Jahren eine First 210 anzuschaffen. Zu guter Letzt kam noch ein gebrauchter Conger dazu, der von Lehrern und Schülern wieder fitgemacht wurde.
Die Boote reichen allerdings bei weitem nicht immer aus, alle Schüler aufs Wasser zu bringen. Doch auch dafür fand sich eine Lösung: eine Kooperation mit dem zwar traditionsreichen, aber wie viele Vereine unter Nachwuchsmangel leidenden Wilhelmshavener Segelclub (WSC).
„In vielen Vereinen liegen Boote oft ungenutzt an den Stegen“ erklärt Maywald. Potenzial, das sich nutzen lässt. In diesem Fall kam die Anregung sogar vom WSC selbst, der zunächst lediglich Stege für die Schulboote und Vereinsräume für den Segeluntericht zur Verfügung stellte.
„Das Schulsegeln war anfangs auf die gymnasiale Oberstufe begrenzt. Wir haben dann 2005 vorgeschlagen, das Projekt auf die Klassen 5 bis 10 auszudehnen und den Schülern die Boote unserer Jugendabteilung zur Verfugung zu stellen“ erzählt der Clubvorsitzende Jörg Owen, 67. Er weiß: „Ganztagsschulen setzen sich immer mehr durch. Daher gewinnen Kooperationen zwischen Schulen und Vereinen zunehmend an Bedeutung, wollen Letztere fortbestehen.“
Es gehe bei der Kooperation mit den Schulen aber nicht nur um den eigenen Verein, erläutert Owen, sondern auch um die Region. „Neben der Bewährung auf See beim Fahrtensegeln oder dem sportlichen Einsatz beim Regattasegeln vermittelt der Segelsport ja auch die Erkenntnis, dass unsere Wirtschaft vom Wasser als Transportweg abhängt. Und dass zugleich Wirtschaft und Weltnaturerbe nebeneinander bestehen können.“
Selbst wenn viele Schüler bedingt durch Studium und Beruf später fortzögen, so Owen, blieben sie dank ihrer gemachten Erfahrungen dennoch auf unterschiedliche Weise Botschafter des Segelsports, förderten sowohl die Region als auch überregionales maritimes Bewusstsein.
WENN EIN CLUB ÜBERLEBEN WILL,
SOLLTE ER MIT SCHULEN KOOPERIEREN
Ähnlich denkt Tom Nietiedt, Inhaber eines weit über Wilhelmshaven hinaus tätigen Unternehmens. Er ist Vorsitzender eines eigens für den Betrieb der Schulboote ins Leben gerufenen Förderkreises und in der regionalen Wirtschaft bestens vernetzt.
Nietiedt sagt: „Teambildungund Verantwortungsübernahme an Bord, das sind Fähigkeiten, die wir im späteren Berufsleben gebrauchen können. Zugleich stärkt das Segeln im Wattenmeer die emotionale Bindung an unsere strukturschwache Region. In Zeiten des demografischen Wandels werden Nachwuchsführungskräfte an der Nordsee-Küste gesucht. Wer gelernt hat, das Wasser zu liehen, bleibt uns eher erhalten.“
Mit solcherart in die Zukunft gerichteten Ambitionen haben die Schüler, zumal die der unteren Klassen, naturgemäß nichts, im Sinn. Ihnen geht es in erster Linie um den Spaß am Segeln. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger.
Wer die Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf den Steganlagen und danach beim Segeln draußen auf dem Hooksmeer vor Hooksiel beobachtet, sieht rasch, wie sehr das Konzept fruchtet. Munter werden von den Schülern Segel angeschlagen. Bei einer Jolle ist das Großfall gerissen. Kein Problem: Sie wird auf die Seite gelegt, das Groß am Masttopp angeschäkelt und mit einer Leine am Lümmelbeschlag dichtgeholL
Die meisten Schüler sind an diesem Tag erst zum dritten Mal auf dem Wasser und hatten nie zuvor eine Pinne in Händen. Trotzdem läuft alles von selbst, ohne dass die Lehrer eingreifen müssten.
„Heute sind wieder vier erfahrene Co-Skipper früherer Jahrgänge dabei. Mitunter verbringen Studenten auch ihre Semesterferien in Wilhelmshaven und kehren dann auf ihre ehemaligen Boote zurück“, erklärt Dieter Rothe. „Durch Delegation entstehen Emotion und Motivation“, ergänzt Jürgen Maywald. Schüler würden in Arbeitsgemeinschaften zu Lehrern, sprächen zudem die Sprache der Youngster. „Zugleich merkt man ihnen an, dass sie stolz sind, wenn sie souverän vor ihren Schulkameraden auf dem Süllbord stehen, während die Boote ordentlich Lage schieben“.
An den Pinnen sind von Anfang an die Schüler. „Sie bekommen einen Kurs und müssen alles weitere umsetzen – Learning by doing. Jeder übernimmt auf diese Weise von der ersten Stunde an zunehmend Verantwortung für seine Crew“, erklärt der Lehrer den Ausbildungsgedanken.
Nach drei Stunden laufen die Boote wieder ein. Ohne Hast werden sie abgetakelt. Alle packen mit an, Anweisungen sind nicht notwendig. Die Crews nehmen sich gegenseitig mit ihren Erlebnissen auf die Schippe. Keiner hat es eilig, nach Hause zu kommen.
Morgen steht ein Schülerreferat an – Frontalunterricht durch den Lehrer ist auch im Segelunterricht eher verpönt. Das Thema: Gezeiten- und Revierkunde. Das Ist notwendig, denn sie segeln auf die Jade hinaus. Gezeitensegler schon am vierten Tag: So erfolgreich kann ein Motivationsmodell sein.
Fotos – Holger Peterson und privat Artikel im Original.pdf